Natalie Junge_Selbstverteidigung

Lernt Selbstverteidigung!

Heute ist Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen. Das Thema wird heute viel offener diskutiert als damals, als ich anfing, Frauen beizubringen, sich gegen sexuelle Übergriffe zu wehren. Manches hat sich aber nicht geändert. Wenn ich „Lernt Selbstverteidigung!“ irgendwo poste, kommen heute dieselben Sprüche als Antwort wie vor 25 Jahren im persönlichen Gespräch.

Manche zeugen von fehlender Sachkenntnis. Das ist o.k., die kann man ja liefern.

Manche sind entlarvend, weil sie zeigen, wie leicht es manchen Männern fällt, sich in die Täterrolle zu denken. Ein beliebtes Spiel ist es, das Gewaltszenario immer wieder zu verändern. Die beschriebene Gewalt immer weiter eskalieren zu lassen, bis die Frau zugibt, dass sie da auch nicht mehr weiterwüsste. Spätestens bei „gefesselt in einem Keller aufwachen“ hat jede Frau verstanden, dass Selbstverteidigung ihr nichts nützt.

Und manche sind einfach gefährlich, weil sie sich als Einsatz für Frauenrechte tarnen. Wir erinnern uns alle an die Kölner Bürgermeisterin Henriette Reker, die nach der Silvesternacht 2015 vorschlug, Frauen sollten eine Armlänge Abstand zu Männern halten, wenn sie sich nicht wohl fühlen. Und den Shitstorm, den sie dafür geerntet hat.

Meine Anfänge mit Selbstverteidigung

Ich weiß noch genau, was mich dazu bewogen hat, Selbstverteidigung zu lernen. Im Studium hatte ich mich mit dem Thema Gewalt schon auseinandergesetzt. Aber ich habe das nie auf mich bezogen. Bis zu dieser einen Nacht im Tucholsky. Ich wollte nach Hause. Auf der Treppe nach oben kam mir jemand entgegen und fasste mir im Vorbeigehen an die linke Brust. Mein Gehirn hat ungefähr eine Sekunde gebraucht zu sortieren, dass das wirklich eine Hand war und kein versehentliches Anrempeln. Und dann hab ich mich umgedreht und bin dem Typen hinterher. Als ihn eingeholt hatte, habe ich ihn fürchterlich angebrüllt, was er sich einbilde, fremde Frauen anzugrapschen und mit meinen Mädchenfäusten auf ihn eingeschlagen. Irgendwann ist das, was in meinem Gehirn ausgetickt war, wieder eingeschnappt und ich habe von ihm abgelassen und bin gegangen. Die ganze Zeit hat der Typ total stillgehalten und nur doof geguckt. Eine Erfahrung, die ich noch öfter machen durfte, dass Gegenwehr zu völliger Paralyse beim Gegenüber führt.

Als ich am nächsten Morgen aufgewacht bin, waren mir zwei Sachen klar:

  1. Was ich für ein Glück hatte. Vermutlich war der Typ total betrunken. Hätte der auch nur einmal zurückgeschlagen, hätte ich verloren gehabt.
  2. Wenn ich mal wirklich in Gefahr bin, muss ich wissen, wie das wirklich geht mit dem sich wehren. Und: Ich will nur einmal zuschlagen müssen. Von dieser Illusion habe ich mich mittlerweile verabschiedet, aber damals war’s mir wichtig, dass es cool aussieht, sollte es wirklich dazu kommen.

Also habe ich angefangen, Kampfsport zu trainieren.

Kampfsport ist nicht Selbstverteidigung

Dass es einen Unterschied zwischen Kampfsport und Selbstverteidigung gibt, habe ich sehr schmerzhaft gelernt. Als ich meinem Bruder erzählt habe, dass ich jetzt Tae Kwon Do lerne, meinte er: „Dann zeig mal, was du schon kannst!“ Ich habe mich für einen geraden Frontkick entschieden.

Das Ergebnis war ein Splitterbruch im kleinen Zeh. Falls du nicht wusstest, dass der kleine Zeh mehrfach brechen kann: Er kann. Was war passiert? Ich stand in perfektem Abstand und habe sauber getreten. Aber mein Straßenkampf-erprobter Bruder hat nicht, wie meine Partner im Training, nur dagestanden im Vertrauen darauf, dass ich weiß, wie lang mein nach vorn ausgestrecktes Bein ist. Er hat das Knie hochgezogen, um meinen Tritt zu blocken.

Kampfsport ist fair. Alle Regeln dienen dazu, die Fairness im Wettkampf sicher zu stellen und das Verletzungsrisiko zu minimieren. Wir kämpfen in Gewichtsklassen und tragen farbige Gürtel, die unseren Kenntnisstand zeigen. Wir suchen den Vergleich mit gleichwertigen Gegnern. Partnern. In die Selbstverteidigung zwingt dich ein Angreifer. Da gibt es nichts faires dran. Du musst lernen, über deine gelernten Verhaltensweisen hinweg zu gehen, u.U. mit dem Ziel, zu verletzen. Das ist nicht so einfach wie man denkt.

Ich habe dann neben dem Kampfsporttraining angefangen, mich gezielt mit Verteidigung gegen sexualisierte Gewalt zu beschäftigen. Und das erste, was du dafür brauchst, sind keine Techniken. Sondern Fakten. Du musst verstehen, worum es überhaupt geht, wo die Gefahren wirklich lauern und was wirklich schützt.

Selbstverteidigung ist eine Einstellung

Wenn ich sage „Lernt Selbstverteidigung!“, dann denke ich diesen zentralen Teil mit: Aufklärung, Reflexion, mentale Vorbereitung, Übernahme von Verantwortung für die eigene Sicherheit. Techniken sind gut fürs Selbstbewusstsein. Zum Einsatz kommen sie praktisch nie. Umso nerviger sind die Argumente, die sich gegen das Erlernen von Selbstverteidigung richten. Meine beiden Favoriten stelle ich euch heute vor:

  1. Selbstverteidigung bringt nichts: Die durchschnittliche Frau ist dem durchschnittlichen Mann körperlich unterlegen.
  2. Das ist Victim Blaming: Frauen sollten ihr Verhalten nicht verändern müssen. Männer müssen aufhören, Frauen anzugreifen.

Das Problematische an beiden Argumenten ist, dass sie jeweils teilweise richtig sind. Die durchschnittliche Frau IST dem durchschnittlichen Mann unterlegen. Und Männer MÜSSEN aufhören, Frauen anzugreifen. Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, dass Frauen nicht lernen sollten sich zu verteidigen, halte ich für gefährlich. Und an den Twitterer, der allen Ernstes gefragt hat, worauf das hinauslaufen soll, ob etwa Frauen sich künftig ständig mit Männern prügeln sollen: Denk mal darüber nach, was diese Frage bedeutet. Wie gefährdet müssen Frauen aktuell leben, wenn deine Angst ist, dass wir uns ständig prügeln werden, sobald wir das gelernt haben!

Keine Frau rennt nachts durch den Park und wartet darauf angesprungen zu werden, um zu sehen, ob ihre Techniken sitzen! Wir wollen nichts als in Sicherheit unseren Angelegenheiten nachzugehen. Wenn ich dazu lernen muss, wie ich dir Schmerzen zufügen kann, ist das eine Aussage über dich. Keine über mich.

Naja, schon auch eine über mich, natürlich. Sonst wäre es ja witzlos. Aber jetzt bin ich schon wieder vom Hundertsten ins Tausendste. Schauen wir uns die beiden Kritikpunkte im Detail an.

Ist Selbstverteidigung sinnlos?

Richtig ist: Die durchschnittliche Frau ist dem durchschnittlichen Mann körperlich unterlegen. Vermutlich sogar dann, wenn sie Kampfsport-Erfahrung hat und er nicht. Richtig ist aber auch: Wenn man links und rechts am Hasen vorbeischießt, ist er statistisch gesehen tot. Der Durchschnittsmann trifft sehr selten auf die Durchschnittsfrau.

Die Bandbreite von männlichen und weiblichen Körpern ist immens. Die Unterschiede innerhalb beider Gruppen sind größer als die Unterschiede zwischen den Gruppen. Natürlich macht es trotzdem an vielen Stellen Sinn, statistische Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu erfassen. Was keinen Sinn macht ist anzunehmen, dass jede Frau jedem Mann unterlegen ist. Das ist nicht der Fall.

Vor allem aber: Körperliche Überlegenheit ist überhaupt nicht nötig, um eine verängstigte, überrumpelte Frau zu etwas zu zwingen. Wenn ihre Kinder im Nebenzimmer sind, wird sie alles tun, um diese nicht zu gefährden. Da kann ein kleiner, gemeiner Knilch eine Schwarzgurtträgerin besiegen, ohne auch nur einen Schlag zu führen. Und überhaupt: Wie erklären Leute, die Frauen für grundsätzlich unterlegen halten, eigentlich häusliche Gewalt von Frauen gegen Männer?

Täter suchen Opfer, keine Gegner

In diesem Argument steckt teilweise auch der alte Irrglaube, Gegenwehr mache den Täter an. Das ist mittlerweile ziemlich sicher widerlegt. Täter wollen nicht ihre Kräfte messen. Dann würden sie vor Karateschulen rumlungern. Täter suchen leichte Beute. Wie oben bereits angedeutet ist es in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle erfolgreicher Gegenwehr überhaupt nicht nötig gewesen, körperlich zu werden. Laut zu sein, auf sich aufmerksam zu machen, genügt meist schon, um den Täter in die Flucht zu schlagen.

Täter testen ihre Opfer. Vor allem Gewalt unter Bekannten (die häufigste Konstellation) gibt einem Täter ausreichend Gelegenheit, vorab zu checken, ob jemand sich wehren wird oder nicht. Je früher eine Frau eine klare Grenze zieht, desto eher wird sie in Ruhe gelassen. Viele Frauen trauen sich nicht, z.B. ihren Chef darauf hinzuweisen, dass seine anzüglichen Bemerkungen unpassend sind. Für den Chef kann (kann, nicht muss!) das das Zeichen sein, sich weiter vorzuwagen. Auch darum geht es in der Selbstverteidigung. Zu lernen, wie Täter arbeiten, wo die eigenen Grenzen sind. Und was man zu opfern bereit ist oder auch nicht.

Vielfältiger Nutzen

Selbstverteidigungskurse, die sich speziell mit sexualisierter Gewalt beschäftigen, machen also auf jeden Fall Sinn. Sie vermitteln Hintergrundwissen, geben Gelegenheit, sich mit den eigenen Ängsten und Grenzen zu beschäftigen. Und statten dich mit Techniken für den Notfall aus, falls der wirklich eintritt.

Studien zeigen, dass Opfer, die wussten, dass sie alles getan haben, um der Situation zu entkommen, besser mit Gewalttaten zurechtkommen. Sie leiden weniger unter dem Kontrollverlust und erholen sich schneller. Außerdem erhöht Gegenwehr die Wahrscheinlichkeit, dass die Tat verwertbare Spuren hinterlässt: Kratzer beim Täter, seine DNA unter deinen Fingernägeln etc.

Abhängig von der Situation kann es richtig sein stillzuhalten, um lebend rauszukommen. Und die geschilderte Paralyse beim Täter, für den die Gegenwehr überraschend kommt, kann ebenso beim Opfer auftreten und erfolgreiche Gegenwehr verhindern. Angst kann lähmen. Der Täter kann stärker sein. Skrupelloser. Bewaffnet. In der Überzahl. Er wählt Zeit und Ort für den Angriff, das gibt ihm einen strategischen Vorteil.

Das sind alles Punkte, die für ihn sprechen. Wir sollten ihm nicht noch den Vorteil verschaffen zu glauben, dass wir chancenlos sind, und es gar nicht erst versuchen.

Aber ist das nicht Victim Blaming?

Das Konzept des Victim Blaming ist ein ganz wichtiges, um die kulturelle Komponente von sexualisierter Gewalt zu verstehen. Es beschreibt den Versuch, dem Opfer – zumindest teilweise – die Schuld an der Tat zuzuschreiben. Dazu gehören Fragen wie „Was hatte sie an?“, „Wie besoffen war die denn?“, oder „Warum bist du überhaupt mitgegangen?“.

Die Funktion von Victim Blaming ist nicht nur, den Täter frei zu sprechen. Es dient auch dazu, die Situation als Ganzes zu interpretieren. Wenn das Opfer nichts falsch gemacht hat, heißt das, dass jede von uns Opfer werden kann. Das ist schwer auszuhalten. Rollenstereotype, soziale Kontrolle, intersektionale Fragen spielen eine Rolle. Da sich das Victim Blaming unter anderem auf den Umgang der Justiz mit Gewalt gegen Frauen auswirkt, war und ist der Kampf dagegen ein zentraler Punkt für Feministinnen. Entsprechend scharf ist das Schwert, wenn einem jemand das als Vorwurf um die Ohren haut. 

Nicht alles, was das Opfer in die aktive Rolle setzt, ist Victim Blaming

In den letzten Jahren erlebe ich immer öfter, dass der Vorwurf „Victim Blaming“ die Standard-Antwort auf alle Versuche geworden ist, den Frauen etwas an die Hand zu geben, was sie selber tun können. Tenor: Die Frauen sollten ihr Verhalten nicht ändern müssen, nur, weil es gewalttätige Männer gibt. Stattdessen sollten wir den Männern beibringen, Frauen in Ruhe zu lassen. Systemisch ist das sicher richtig. Aber was nützt das der individuellen Frau, die in der jetzigen Realität lebt?

Nun heißt das ja Victim Blaming und nicht Victim Responsible Holding. Sowohl die englische als auch die deutsche Sprache unterscheidet zwischen Schuld und Verantwortung. Und diese Unterscheidung halte ich für elementar.

Die Schuld für eine Tat liegt immer beim Täter. Er hat die Entscheidung getroffen. Was zu dieser Entscheidung geführt hat, wie frei die getroffen werden kann, das ist ein Thema für einen anderen Post. Der Punkt ist: Das Opfer trägt keine Schuld daran, dass es Opfer wurde.

Schuld und Verantwortung

Aber: Jeder Mensch trägt für seine eigene Unversehrtheit die Verantwortung. Und die kann ich nicht abgeben. Ich muss selber klären, welchen Risiken ich ausgesetzt bin, wie ich das einschätze und wie ich damit umgehe. Das bedeutet nicht, dass es meine Schuld ist, wenn mir was passiert. Ein anderer in einem kriminellen Akt meine Grenzen verletzt. Doch wenn ich Verantwortung übernehmen möchte, dann will ich brauchbare Tipps! Und niemanden, der mir erklärt: Ach, du brauchst dich nicht anzuschnallen. Es sollte einfach keine schlechten Autofahrer geben.

Bescheuertes Beispiel? Ist dir schonmal aufgefallen, dass wir dieses Konzept des „Das potentielle Opfer soll sein Verhalten nicht ändern müssen“ nur auf Frauen anwenden? Und auch nur im Kontext sexualisierte Gewalt, wenn es darum geht, was sie selbst tun können um sich zu schützen? Niemals würde jemand die Dienstanweisung, Schutzweste zu tragen, als Victim Blaming bezeichnen, weil einfach niemand auf Polizisten schießen sollte!

Mir hat auf diesen Gedanken mal jemand geantwortet, das sei nicht vergleichbar, denn Polizisten würden das Risiko ja kennen und sich trotzdem für den Beruf entscheiden. DAS ist Victim Blaming!

Wir verlangen ständig von Leuten, dass sie ihr Risiko einschätzen und sich umsichtig verhalten. Wir nennen das vernünftig. Wenn ich einer Frau rate, Kleidung zu tragen, in der sie sich bewegen kann, nur so viel zu trinken, dass sie bei einem Frontkick nicht hinten rüber kippt, und genug Geld mitzunehmen, damit sie im Taxi nach Hause fahren kann, falls ihr Date sich als Vollidiot entpuppt, dann ist das vernünftig. Wenn sie dann ihr Geld versäuft und zu Fuß nach Hause torkelt, hat natürlich trotzdem niemand das Recht, ihr was anzutun! Das sind zwei verschiedene Dinge.

Eine Armlänge

In dieselbe Kategorie fällt der Tipp, eine Armlänge Abstand zu Leuten zu halten, die einem nicht geheuer sind. Ich hatte damals das Gefühl so ziemlich die einzige Person auf der Welt zu sein, die das für einen an sich sinnvollen Ansatz hielt. Natürlich nicht in einer Menschenmenge wie auf der Kölner Domplatte zu Silvester!

Aber grundsätzlich sollten wir unserer Intuition vertrauen. Wenn uns jemand nicht geheuer ist, Abstand halten, die Verabredung abbrechen, sich nicht nach Hause begleiten lassen. Den Job ablehnen, eine Beschwerde an die Personalabteilung schreiben, den Kunden in den Wind schießen. Das Penisbild an die Polizei weiterleiten, den Versender der Plattform melden, den User blockieren. Soll er doch denken, was er will!

All diese Dinge tragen einer Tatsache keine Rechnung: Die meisten Übergriffe passieren zwischen Menschen, die sich kennen, und in der Wohnung des Opfers. Die gefährlichste Phase im Leben einer Frau ist die, wenn sie versucht, sich von einem gewalttätigen Partner zu trennen. Noch immer nehmen Polizei und Politik Drohungen gegen Leib und Leben innerhalb von Beziehungen nicht ernst genug. Familien fordern möglicherweise Verständnis für gestresste Täter statt die Opfer zu schützen. Oder glauben den Opfern nicht. Vielen Frauen fehlen die Ressourcen, die es braucht, sich zu schützen. Selbstverteidigung ist nicht das Erlernen von Tritten und Schlägen. Dazu gehört so viel mehr. Und wer Frauen sagt, dass sie das nicht brauchen, der sagt ihnen im Grunde, sie sollen weiter daheimsitzen und auf ihre Rettung warten.

Heute ist Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen. Lernt Selbstverteidigung!

Wenn du in einer Notsituation bist, such dir bitte Hilfe! #schweigenbrechen

Beitragsbild Häusliche Gewalt
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