Heute hat mich ein Kollege gefragt, offenbar weil er selbst diesen Rat öfter mal bekommt, ob ich mir nicht einfach ein dickeres Fell wachsen lassen könnte. Der Anlass ist egal, meine Antwort ging so in die Richtung: Äääh, nein? Weil ich natürlich darauf reagiert habe, ob ICH ein dickeres Fell brauche. Die Frage, die darin steckte: Braucht er das? habe ich gepflegt ignoriert, dann aber den ganzen Nachmittag darauf rumgedacht. Diesen Rat geben Menschen anderen Menschen ja doch ganz schön oft. Warum eigentlich? Und: Haben die recht? Brauchen wir alle ein dickeres Fell?
TLTR-Spoiler: Nope.
Natürlich gibt es Situationen, die man einfach mal aushalten muss. Es gehört zum Leben dazu, dass Menschen sich an einem abarbeiten, dass man scheitert oder dass Dinge sich einfach nicht gut anfühlen. Die Fähigkeit, sich distanzieren zu können, sich von seinen Emotionen nicht überrollen zu lassen, nicht alles persönlich zu nehmen, ist total wichtig, um auch unter Belastung handlungsfähig zu bleiben.
Wenn du zum Beispiel in deinem Job als Vertreterin einer Institution wahrgenommen wirst und die Klienten ihren Frust an dir ablassen, ist es wichtig, dass du weißt: Das hat nichts mit mir zu tun. Ich bin hier nur die Stellvertreterin für das System. Professionelle Distanz hilft dir an der Stelle, deinen Job zu machen, auch wenn sich das für die andere Person gerade blöd anfühlt.
Mitgefühl ist in solchen Settings vielleicht eine Kommunikationsstrategie, um den Frust einzufangen. „Ich verstehe Ihren Frust, ich würde Ihnen gern helfen, aber…“ Nur so richtig mitfühlen darf man halt nicht. Sonst kommt man noch auf die Idee, etwas am System ändern zu wollen. Oder man fängt an, die Probleme der Klienten mit nach Hause zu nehmen, und das führt oft direkt in den Burn-Out.
Also: Es gibt Situationen, da brauchst du ein dickes Fell. Ob du dich entscheidest, an der Situation etwas zu ändern oder nicht: erstmal musst du in ihr klarkommen.
Mitgefühl, mit Gefühl
Manchmal merkst du nach einer Weile: Hier haben alle dasselbe Problem, und das liegt nicht an den Klienten. Oder mir. Der Fehler liegt im System. Und du fängst an, mit Kollegen darüber zu sprechen und mit Freunden. Und deine Wahrnehmung wird bestätigt: Ja, hier liegt was im Argen. Und ihr habt auch eine Idee, was man machen könnte, also macht ihr euch auf. Sucht Verbündete, gründet Arbeitsgruppen, geht demonstrieren, was auch immer euch einfällt. Und ihr habt vielleicht erste Erfolge und dann die ersten fiesen Rückschläge, und das fühlt sich echt nicht gut an. Und DANN, genau in dem Moment, wenn du gerade merkst, wie anstrengend der Weg ist, auf den du dich gemacht hast, und dich aufregst, weil Veränderung so lange dauert und so anstrengend ist, dann sagt einer: Du musst dir mal ein dickeres Fell wachsen lassen!
Und du, weil du gerade schwächelst, denkst du vielleicht, die könnten recht haben. Sich scheiße zu fühlen fühlt sich scheiße an. Wäre das Leben nicht viel einfacher, wenn mir die Probleme anderer Leute oder die miese Organisation hier egal wären? Ich bin wirklich etwas dünnhäutig geworden durch den ganzen Stress.
Aber es ist doch so: Fast alle Menschen, von denen ich weiß, dass sie sich das mit dem dicken Fell schonmal anhören mussten, mich inklusive, müssen nicht lernen, länger durchzuhalten, weniger mitzufühlen oder es härter zu versuchen. Die meisten von uns halten Schwachsinn viel länger aus als gut für sie ist, ziehen alle Register beim Versuch, die Situation für ihre Kunden, Klienten, Mitarbeiter:innen oder Kollegen zu verbessern und nehmen sich viel Zeit, um über ihre eigenen Anteile an Problemen und Entwicklungspotentiale zu reflektieren. Wir sind hart im Nehmen, lassen uns nicht gern unterkriegen. Und wir nerven halt.
Wer braucht hier das dicke Fell?
„Lass dir mal ein dickeres Fell wachsen“ heißt nicht, dass du ein dickeres Fell brauchst. Es heißt, dass du der Indikator bist, dass etwas nicht so gut läuft, wie es könnte oder sollte. Und dass jemand damit in Ruhe gelassen werden will. Vielleicht, weil er/sie über keine Strategien verfügt, mit den unschönen Gefühlen umzugehen, die Veränderungen mit sich bringen. Vielleicht aus Angst, dass seine Fassade bröckelt und er plötzlich all den Murks fühlen muss, den er seit Jahren wegdrückt. Vielleicht, weil sie mal diejenige war, die vergeblich versucht hat, für ihre Klienten die Situation zu verbessern, als in einer schwachen Minute der Ratschlag kam: „Du nimmst dir das alles viel zu sehr zu Herzen. Lass dir mal ein dickeres Fell wachsen.“ Und du jetzt eine vage Erinnerung an Motivation und Enthusiasmus in ihr wachrufst.
Menschen brauchen kein dickes Fell, wenn sie Situationen nicht aushalten, sondern wenn sie ihre Gefühle nicht aushalten. Aber die Welt zum Besseren verändern zu wollen ist eine gute Sache. Und sich dabei mal entmutigt, frustriert, todtraurig oder tierisch wütend zu fühlen, ist völlig in Ordnung. Denn nur, wenn du die Tiefen kennst, hast du auch Raum nach oben: Für Freude, Leidenschaft, Liebe und Dankbarkeit zum Beispiel.
Und jetzt mal ganz ehrlich: Wer hat Zeit für die Fellpflege?!?
Foto von Ray Hennessy auf Unsplash
Super Text. Du sprichst mir wieder mal aus der Seele und formuliert so unglaublich treffend.
Danke, liebe Iris.